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So wird das gehortete Mehl

Berlin / Hamburg. In Haushaltsküchen wird mehr Teig geknetet, gefaltet und gedehnt als seit langem. Sauerteig wird über den Internetaustausch zubereitet, gefüttert und sogar verteilt. Viele Menschen entdeckten während der Corona-Zeit, selbst Brot zu backen. Eine Leidenschaft, die Zeit braucht, die derzeit dank Home Office oder Kurzarbeit verfügbar ist. Und viele lernen die Arbeit des Bäckers durch das Hobby noch mehr zu schätzen.

Sonja Scherfer kann sich nicht wirklich über Langeweile beklagen: Ihre älteste Tochter geht in die erste Klasse und während des Homeschooling müssen auch die beiden kleineren Geschwister betreut und ihre eigene Arbeit erledigt werden. Wenn die Kinder abends im Bett liegen, nimmt sich der Berliner noch Zeit für Brot: „Ich habe keine Knetmaschine und mache alles von Hand. Es ist einfach entspannend und eine gute Balance zu meiner Gehirnarbeit “, sagt der Lehrer. „Und es ist schön, ein eigenes Brot zu haben“, sagt Scherfer, der im Dezember auf ein Rezept im Internet gestoßen ist und mit dem Backen begonnen hat.

Ob Dinkel, Weizen oder Roggen, mit oder ohne Getreide, aus dem Topf oder aus der Dose – im Internet mangelt es nicht an Rezepten und Variationen. Zum Beispiel gibt es einen lebhaften Austausch und neue Fotos von knusprigen Kreationen in der Facebook-Gruppe „Selber Brot & Brötchen backen“. „Unsere Gruppe wächst momentan rasant. Jede Woche kommen mehrere tausend neue Mitglieder hinzu “, sagt Ilona Karau, die für die 2014 gegründete Gruppe verantwortlich ist.

350.000 Besucher pro Monat auf einem Backblog

Auch der Buchautor und Blogger Lutz Geißler berichtet von einem „starken Interesse“ am Brotbacken. „Mit der Zunahme der Infektionen und der ersten Sperrung stieg auch die Anzahl der Benutzer in meinem Blog. Die Zahl hat sich verdreifacht – auf rund 350.000 Besucher pro Monat “, sagte Geißler. Der studierte Sachsen aus Sachsen betreibt den „Ploetzblog“ mit Tipps zum Brotbacken in Krisenzeiten und organisiert seit Corona Online-Kurse. Der Autodidakt zeigt zum Beispiel, wie man mit nur einem halben Gramm Hefe Brot backen kann – was besonders in der ersten Pandemiewelle hilfreich war, als Hefe ein knappes Gut war.

Aber warum backen die Leute ausgerechnet Brot? Warum nicht Kuchen? „Brot steht für das Überleben. Und wenn ich es selbst backe, kann ich noch besser überleben “, sagt der Ernährungspsychologe Christoph Klotter. Auch die Geschichte spielt eine Rolle: „Brot ist das Essen der Deutschen. Vor 200 Jahren wurden den ganzen Tag Brot, Haferbrei und Kartoffeln gegessen. “

Lotte verfiel beim Brotschneiden

Brot ist auch ein wichtiger Bestandteil unserer kulturellen Identität. „Ausgerechnet Goethes Werther verliebt sich in Lotte, wenn sie Brot schneidet und an Kinder verteilt“, sagte der Fulda-Professor. Last but not least sieht er den aktuellen Brotbacktrend als Ersatz für den Mangel an Kontakten: „Dies kann auch zum Ausgleich sozialer Defizite genutzt werden“.

Verkäufer von Backzubehör und Bäcker freuen sich über die Entwicklung. „Wir hatten eine Umsatzsteigerung von 300 Prozent“, berichtet Birgit Freitag aus Reutlingen, Vertriebspartnerin für Pampered Chef-Produkte, einschließlich Brotbackformen. In der Zwischenzeit gab es aufgrund von Engpässen sogar einen Verkaufsstopp für verschiedene Produkte.

Das Berliner Unternehmen BakeNight profitiert auch vom Brotboom, der aufgrund von Corona auch seine Werkstätten mit Bäckern bundesweit verlegt hat. Seit Januar haben bereits rund 1200 Teilnehmer Kurse zum Brotbacken belegt, sagt Sprecher Miles Zornig. Kurse wie „Sauerteigbrot“, „Topfbrot“, „Brötchen“ oder „Baguette“ gehören derzeit zu den beliebtesten.

Wachsender Respekt für den Bäckereigewerbe

Durch das Backen von Brot wird vielen Menschen bewusst, dass es sehr zeitaufwändig und nicht immer einfach ist, sagt Daniel Schneider, Geschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Bäckerhandwerks. „Diese Erfahrung führt auch zu einer bewussten Haltung gegenüber hochwertigem Brot und erstklassigen Backwaren der Gildenbäcker“, sagt Schneider. Sein Verein begrüßt daher den Trend zum Selbstbacken.

Seit Jahren kämpfen Bäcker mit ihren vergleichsweise billigen Backwaren gegen die Konkurrenz von Supermärkten und Discountern. Die Zahl der Bäckereien ist seit langem rückläufig. Im Mai 2020 waren beispielsweise rund 10.500 Bäcker im Handwerksregister eingetragen;

Lutz Geißler ist einer von denen, die dem Trend entgegenwirken wollen. Der 37-Jährige will mit seinem Partner in Hamburg eine eigene Bäckerei eröffnen. Die Erfolgsaussichten stehen gut, denn handwerkliches Brot ist gefragt. Kunden stehen manchmal vor Geschäften wie der in Berlin, Frankfurt und Hamburg vertretenen Kette „Zeit für Brot“ an. Auch der Hamburger Bäcker Sören Korte erlebt dies. Vor seiner Brotfabrik lautet das Motto auch: Warten. Korte, der mitten in der Pandemie sein Geschäft eröffnet hat, freut sich: „Zum Glück stehen die Leute für mich an.“

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