Die Wahrheit in den Kriegsgebieten
Der Leipziger Investigativjournalist Arndt Ginzel und sein Team haben jahrelang für öffentlich-rechtliche Medien aus Russland und der Ukraine berichtet. Seit dem russischen Angriffskrieg haben sie mehrfach in der Region recherchiert und zum Beispiel für das ZDF eine Dokumentation über die Kriegsverbrechen in Butscha gedreht, genannt „Die Straße des Todes“. Vor Kurzem erhielt Ginzel für seine Berichterstattung zum Ukraine-Krieg den Deutschen Fernsehpreis im Bereich Information. Die Begründung lautete, dass Ginzels Reportagen zeigen, wie schwierig und gefährlich es ist, sich der Wahrheit in Kriegsgebieten anzunähern. Genau das gelingt ihm immer wieder. Auch sein neuester Film „White Angel – Das Ende von Marinka“ unterstreicht dies. Die Dokumentation eröffnete das Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig und wurde dort mit großem Interesse aufgenommen.
Inbegriff des Stellungskrieges
Im Februar machte Ginzel eine Reise in die Ostukraine, zu Orten, die er ein Jahr zuvor kurz nach Kriegsbeginn besucht hatte. Eines seiner Ziele war die Kleinstadt Marinka. „Sie ist für mich der Inbegriff eines Stellungskriegs wie im Ersten Weltkrieg, eine Stadt, die nicht mehr existiert. Marinka hatte knapp 10.000 Einwohner, mit Kindergärten, Schulen, Kirchen und einem Krankenhaus. Aber das alles gibt es nicht mehr“, erklärt Ginzel. Während seines Besuchs in Marinka lernte er den Polizisten Vasil kennen, der Teil eines Evakuierungs- und Rettungsteams war und unter ständigem Beschuss Menschen aus der Stadt rettete. Die Menschen vor Ort nannten ihren weißen Krankenwagen „White Angel“. Als Ginzel Vasil traf und dessen Helmkamera sah, bat er ihn, das Filmmaterial anzuschauen. Vasil überreichte ihm daraufhin die gesamte Festplatte mit vierzig Stunden Material, das die Rettungseinsätze seit Kriegsbeginn dokumentierte.
Unterstützung vom ZDF und Weltkino Leipzig
Zurück in Leipzig verbrachte Ginzel Wochen damit, das Material zu sichten, was ihn sehr beanspruchte und psychisch mitnahm. „Man glaubt nicht, in wie viele Teile und auf welche Arten ein Mensch zerrissen werden kann“, sagt er und raucht dabei unaufhörlich. Gemeinsam mit seinem Kollegen Martin Kraushaar wurde ihm klar, dass aus dem Material eine Lang-Dokumentation werden musste, die über das hinausgeht, was in normalen TV-Berichtformen gezeigt werden kann. Die Redaktion von ZDF-Frontal stand sofort hinter der Idee, einen neunzigminütigen Film für das Kino zu produzieren, berichtet Journalist Kraushaar. Der Leipziger Filmverleih Weltkino und der Dok-Festivaldirektor Christoph Terhechte bekundeten ebenfalls ihr Interesse. „Es ist fantastisch, dass wir als Eröffnungsfilm laufen. Das zeigt ein großes Vertrauen in uns.“ Denn als die Zusage kam, war die Dokumentation noch nicht fertig. Erst Tage vor dem Festival konnten Ginzel und Kraushaar ihren finalen Film auf großer Leinwand zur Probe sehen.
Vollständige Zerstörung einer ganzen Stadt
„Dabei hört man nur noch den Einschlag, und dann ist alles vorbei. Haus, Heimat, Mann: alles weg“, beschreibt Ginzel die Situation in Marinka. Die Aufnahmen der Helmkamera wirken unmittelbar und direkt, ähnlich wie in einem Ego-Shooter-Spiel. Anfangs sind noch relativ intakte Straßenzüge zu sehen, aber der Film endet am 16. Oktober mit der vollständigen Zerstörung der Stadt. Dieser nihilistische Prozess der Auslöschung begleitet den gesamten Film. Bei jedem Einsatz werden mehr zerstörte Häuser, Granattrichter im Straßenbelag und verbranntes Land gezeigt. Dass überhaupt Menschen in dieser Umgebung überleben konnten, grenzt an ein Wunder. Ebenso erstaunlich ist, dass Menschen unter Lebensgefahr andere retteten.
Ein wichtiges Zeitdokument
Der klare Blick auf die Zivilgesellschaft und ihr Schicksal macht diese Dokumentation besonders. Obwohl die blutigsten Szenen des „White Angel“-Teams nicht zu sehen sind, ist der Film dennoch sehr hart und kaum zu ertragen. Gerade deshalb ist er ein wichtiges Zeitdokument. Die Menschen außerhalb der Kriegsgebiete müssen sehen, was Vasyl mit eigenen Augen gesehen hat, damit die russischen Kriegsverbrechen nicht in Vergessenheit geraten.
Der Film „White Angel – Das Ende von Marinka“ kann am Dienstag um 17 Uhr in der Schaubühne Lindenfels in Leipzig und am Samstag um 11:30 Uhr im Cinestar Leipzig angesehen werden.