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Behinderte fühlen sich in der Pandemie vergessen

Berlin. Obwohl eine Koronainfektion schwerwiegende Folgen für Menschen mit Behinderungen haben kann, werden sie nur mit bestimmten Diagnosen oder nach individuellen Entscheidungen vorzeitig geimpft. Viele der acht Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland fühlen sich in der Diskussion um Corona vergessen.

Dies zeigt sich insbesondere in der aktuellen Diskussion um Koronaimpfungen. Zum Beispiel können jetzt Lehrer geimpft werden. In einigen Bundesländern haben Polizeibeamte ebenfalls Vorrang. Menschen mit Behinderungen hingegen können sich nur dann früher impfen lassen, wenn sie eine bestimmte Diagnose haben oder eine individuelle Entscheidung getroffen haben. Und das, obwohl für viele von ihnen eine Covid-19-Krankheit nach Informationen von Verbänden und Betroffenen schwerwiegende Folgen haben könnte.

Der Inklusionsaktivist Raul Krauthausen lebt mit Glasknochen und ist kurz. „Ich bin seit letztem März in Selbstisolation“, sagt er. „Ich gehe nur spazieren, aber treffe niemanden.“ Da er ein kleines Lungenvolumen hat, möchte er definitiv keine Infektion mit dem Coronavirus riskieren. Ein absehbarer Ausweg aus der aktuellen Situation ist die Impfung – aber trotz aller Bemühungen hat er noch keinen Impftermin erhalten.

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel (SPD), berichtet von einer Reihe von Betroffenen, die sich seit Monaten zu Hause isolieren, weil sie wissen, dass sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind: „Dies ist eine große psychologische Belastung für die Menschen, “ er sagt. Ähnliches kann man von sozialen Vereinigungen hören.

Krauthausen drückt es etwas drastischer aus: „Die Nerven sind auf den Nerven“. Er erzählt vom Mangel an Desinfektionsmitteln zu Beginn der Pandemie. Über den Mangel an Testmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen und ihre Betreuer im letzten Jahr. Mangelnde Berücksichtigung in Impfplänen. Sein Fazit: „Man könnte fast Bosheit annehmen, wenn dies wiederholt vergessen wird.“

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USA: Notfallzulassung für Johnson & Johnson-Impfstoff

Der Johnson & Johnson-Impfstoff bietet einen großen Vorteil gegenüber den anderen zugelassenen Impfstoffen. © dpa / TNN

Vergessen oder Datenlücke?

Die Bundesregierung will den Vorwurf, die Betroffenen vergessen zu haben, nicht darauf sitzen lassen. Das Sozialministerium betont, dass es seine Bedenken im Auge hat. Man steht in ständigem Austausch mit Verbänden und Organisationen. Beispielsweise gibt es finanzielle Unterstützung für Tests in der stationären und ambulanten Versorgung. Darüber hinaus sind Schutzmasken aus Bundesbeständen rechtzeitig an Behindertenhilfe zu senden. Bei der Ausarbeitung der Impfvorschriften verweist das Gesundheitsministerium auf die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko).

Nur: In den Empfehlungen werden die Personengruppen angegeben, für die ausreichende wissenschaftliche Daten zur Infektion und zum Krankheitsverlauf vorliegen. Es wurden Studien zu Menschen mit Trisomie 21 und auch zu Menschen mit geistiger Behinderung durchgeführt, wie aus den Empfehlungen von Stiko hervorgeht. Sie wurden in die zweithöchste Prioritätsstufe aufgenommen.

Nach der Impfverordnung sollten Personen mit seltenen Diagnosen auch mit einem Zertifikat Vorrang erhalten – in der Praxis fällt es Querschnittsgelähmten und vielen anderen Betroffenen jedoch schwer, dies durchzusetzen. Krauthausen sagt: „Es ist schwierig, diese Leute jetzt dafür zu bestrafen, dass sie so wenige sind.“ Insbesondere Menschen, die unabhängig zu Hause und nicht in einer Einrichtung der großen Wohlfahrtsverbände leben, haben keine Lobby.

Die Folgen für die Betroffenen

Generell schränkt die Koronapandemie die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe stark ein, wie Janina Jänisch, Geschäftsführerin des Bundesverbandes für körperlich und mehrfach behinderte Menschen (bvkm), erklärt. Therapien können nicht fortgesetzt werden, Einrichtungen sind geschlossen, Mobilität ist eingeschränkt.

„Und viele Menschen mit Behinderungen empfinden die Situation als bedrohlich und reagieren mit Ängsten oder sogar Depressionen.“ Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, fügt hinzu: „Es wird viel zu wenig darauf geachtet, dass sie alle wichtigen Informationen über die Pandemie in Not in einer barrierefreien Form liefern, weil sie sonst einfach nicht hören, sehen oder sehen können verstehe sie. „

Und die Impfsituation verschärft die Probleme. Zum Beispiel gibt es Kinder, die mit lebensverkürzenden Krankheiten leben, sagt Dusel. Es gibt jedoch keinen Impfstoff für sie – und laut Impfverordnung können derzeit nur zwei Kontaktpersonen geimpft werden.

„Das ist weit entfernt von jedem wirklichen Leben in der Familie und entspricht auch nicht der Stiko-Empfehlung. Die Personengruppe muss erweitert werden. Für Menschen, die Hilfe benötigen, stellt sich auch die praktische Frage: „Was ist, wenn mein Assistent infiziert ist? Sagt Krauthausen.

Dies kann langfristige soziale Folgen haben. Krauthausen erzählt von Dutzenden von Nachrichten pro Tag, die er von den Betroffenen erhält, „die jetzt allen misstrauen“. Diese Leute betrachteten die aktuellen Lockerungsdebatten mit völligem Unverständnis, während sie noch auf ein Impfangebot warten mussten. Dusel sagt: „Wenn sich die Betroffenen vom Wohlfahrtsstaat verlassen fühlen, haben wir ein Problem mit der Demokratie.“

Wenn es ins Krankenhaus geht

Nach Dussels Einschätzung könnten sich auch diejenigen, die zur Behandlung ins Krankenhaus müssen, vom Wohlfahrtsstaat verlassen fühlen. Das Problem: Insbesondere Hausbewohner, die ihre Assistenten mitnehmen wollen, werden nicht finanziert. Das Thema ist seit Jahren bekannt, sagt Dusel. Die Tatsache, dass es immer noch keine Lösung gibt, ist „kein Ruhm der Bundesregierung“.

Insbesondere bei der Pandemie verschärft sich das Problem, wenn das Krankenhauspersonal Menschen mit Behinderungen an der Grenze betreuen muss – für die sie überhaupt nicht ausgebildet sind. „Jeder hat das Recht, gut betreut zu werden“, betont Dusel. Er hofft, dass es in dieser Legislaturperiode eine Lösung geben wird.

Lockdown, keine spontanen Besprechungen, ein begrenzter Bewegungsspielraum – das ist die Erfahrung, die jeder hat. „Behinderte Menschen hatten schon immer diese Erfahrung mit Sperren“, sagt Krauthausen. Als Gesellschaft kann man von Menschen mit Behinderungen viel lernen, wie man mit solchen Situationen umgeht. „Menschen mit Behinderungen konnten nicht immer nur als Opfer gesehen werden – sondern als Trainer.“

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