Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2023 an Maria Stepanova vergeben
Die russisch-jüdische Autorin Maria Stepanova, die 1972 in Moskau geboren wurde und derzeit im deutschen Exil lebt, ist Preisträgerin des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2023. Anlässlich der Eröffnung der diesjährigen Leipziger Buchmesse wurde sie am Abend des 26. April 2023 für ihren Lyrikband „Mädchen ohne Kleider“ ausgezeichnet. Die Laudatio hielt die Schweizer Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin Ilma Rakusa. Anschließend bedankte sich Maria Stepanova mit einer Rede.
Die ausgezeichneten Gedichtzyklen Maria Stepanovas – so liedhaft wie erzählerisch – führen eindrücklich vor, wie sich in aktuelle Poesie ein waches Geschichtsbewusstsein einschreibt. Der Lyrikband „Mädchen ohne Kleider“ ist im Mai 2022 im Verlag Suhrkamp erschienen. Die viel gelobte Übertragung aus dem Russischen stammt von Olga Radetzkaja. Die Jury verwies in ihrer Begründung auch auf den Lyrikband „Der Körper kehrt wieder“ (2020) und den Roman „Nach dem Gedächtnis“ (2020).
Die Reden zur Preisverleihung
Ilma Rakusa betonte in ihrer Laudatio auf Maria Stepanova, dass „der Begriff Weltpoesie zu kaum einer zeitgenössischen Lyrikerin so gut wie zu ihr (passe), die wie selbstverständlich mit Homer, Dante und Shakespeare, Goethe, Rilke und Celan, Walt Whitman, Emily Dickinson und T.S. Eliot, Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa und Joseph Brodsky in Dialog tritt.“ Sie sagte außerdem, dass Stepanovas großes Thema die Erinnerung sei, die sie in Fragmenten sammelt und neu zusammensetzt. „Maria Stepanova ist eine zauberische Verwandlerin: aus Kleinem macht sie Großes, aus Großem Kleines; ein Gang durchs Feld führt mitunter in die Tiefen der Historie, kosmische Zusammenhänge erschließen sich aus Schweißflecken, Wollmäusen, Fusseln.“ So entstehe eine „wahrhaftige“ und „welthaltige“ Poesie.
Maria Stepanova sagte, dass sie „durch (ihre) Geburt und (ihre) Staatsangehörigkeit mit einem Land verbunden (ist), das jetzt versucht, Europa zurück in die Vergangenheit zu werfen (…)“. Sie gehöre zu denen, „die in russischer Sprache schreiben und die versuchen, sie im Namen der Zukunft neu zu gestalten.“ Sie widersetze sich jenen Kräften, die versuchen, die russische „Sprache als Instrument der Gewalt und des Todes (zu) missbrauchen.“ Sie fragte in ihrer Rede, was Lyrik angesichts eines brutalen Krieges bewirken könne. Im Nachdenken über das Wirken von Poesie und das Schreiben in russischer Sprache setzte sie ihre berührende Rede fort.
Laudatio der Literaturwissenschaftlerin Ilma Rakusa
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Maria Stepanova,
„Die drei Zyklen im neuen Gedichtbuch von Maria Stepanova dürfen wir als absolute Höhepunkte im aktuellen Stimmenkonzert der Weltpoesie bewundern“, schrieb der kürzlich verstorbene Lyrikkenner Michael Braun über den Gedichtband „Mädchen ohne Kleider“. Und Natascha Freundel äußerte auf rbbKultur: „Stepanova lauscht den Wörtern sehr genau. Zeigt ihr propagandistisches, gewalttätiges Potential, bleibt dabei im intensiven Dialog mit der russischen und der westlichen Weltliteratur, vermittelt ein antiimperiales, unheroisches Russisch, eine Sprache ohne Machtanspruch.“
Der diesjährige Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geht an eine Dichterin, eine russisch-jüdische Dichterin, die seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in Berlin lebt, weil sie diesen Krieg zutiefst verurteilt und in Russland keinen Platz mehr für sich sieht. Eine Dichterin, die zahlreiche Lyrikbände, Essays und das Erinnerungsbuch „Nach dem Gedächtnis“ veröffentlicht hat und bis Kriegsausbruch Chefredakteurin des unabhängigen Kulturportals colta.ru war.
Maria Stepanovas Name ist international bekannt: In den USA hat sie doziert und Gastvorträge gehalten, für ihre Bücher wurde sie mit namhaften Preisen ausgezeichnet. Und tatsächlich passt der Begriff „Weltpoesie“ zu kaum einer zeitgenössischen Lyrikerin so gut wie zu ihr, die wie selbstverständlich mit Homer, Dante und Shakespeare, Goethe, Rilke und Celan, Walt Whitman, Emily Dickinson und T.S. Eliot, Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa und Joseph Brodsky in Dialog tritt. Zitate sind Zikaden, meinte der Weltpoet Mandelstam. Bei Maria Stepanova durchtönen sie lautstark oder leise, ernst oder ironisch ihre langen, vielschichtigen Gedichte. Auch kommt es vor, dass die Lyrikerin nicht zitiert, sondern umschreibt. So klingt Goethes „Erlkönig“ bei ihr so:
„wer reitet so spät durch tümpel und bach
bald fliegt er bald jagt er bald schläft er im bart
das fuhrwerk rasselt und dröhnt
der knabe fiebert er stöhnt
keine angst mein kind es geschieht dir kein leid
lass den wind ruhig im riedgras wimmern
der reiher ruft der kranich schweigt
bald sind wir zu hause wie immer
im busen ist’s matt, unterm herzen ist’s warm
in der hufspur die zitternde pfütze
lass sie sagen: schau, es ist ja schon tag
blasser stern über knabenmütze
aber dort im dunkeln tief unter dem moor
quillt das erdwasser aus dem gestein hervor
kehrt zurück aus der strafkolonie
steht den stühlen schon bis ans knie“
Das Wort „strafkolonie“ lässt aufhorchen, ebenso der zwischen absurdem Märchen und Pastiche changierende Ton. Stepanovas Erlkönig-Version findet sich im Gedichtzyklus „Spolia“ aus dem Band „Der Körper kehrt wieder“, den Olga Radetzkaja – wie alle Bücher der Autorin – großartig übersetzt hat. Das lateinische Wort Spolia meint hier Bruchstücke, die Stepanova in die Gedichte eingebaut hat. Womit wir beim zentralen Thema fast all ihrer Bücher wären: der Erinnerung, die Fragmente der persönlichen und der kollektiven Geschichte sichtet, sammelt und sortiert, um sie in neue, ungewohnte Zusammenhänge zu rücken und dem Vergessen zu entreißen.
Ein kompliziertes, auch schmerzliches Vorhaben, zumal die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen eine Gewaltgeschichte war, deren Traumata von offizieller Seite – zugunsten eines heroischen Narrativs – verdrängt wurden, bis hin zum Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial durch Putin. Stepanovas Grundantrieb ist Gerechtigkeit, ist eine Ethik des Mitleids, um insbesondere die vergessenen Toten wieder ans Licht zu holen, sichtbar zu machen. Dieser „Rettungsaktion“ hat sie ihr Buch „Nach dem Gedächtnis“ gewidmet, eine großangelegte Recherche auf den Spuren ihrer Vorfahren – mittels Fotos, Briefdokumenten und Tagebuchnotizen. Bruchstückhaft setzen sich Lebensläufe zusammen, und hinter allem scheint die Epoche auf, bedrohlich selbst dort, wo sie Normalität suggeriert. Meisterhaft arbeitet Stepanova mit Puzzleteilen, indem sie ihr Tun ständig der Prüfung und Reflexion unterzieht, nicht ohne einige aktuelle Entwicklungen zu hinterfragen. Was taugen Bilder in einer Zeit digitaler Überproduktion (und Manipulation)? Drohen sich in ihrem „Spiegelkorridor“ doch „nicht nur die Toten, sondern auch die Lebenden“ zu verlieren. Wie lässt sich die Würde des Individuums über die Zeiten retten? Im Dialog mit Susan Sontag und Roland Barthes, mit Ossip Mandelstam und W.G. Sebald versucht Stepanova, heutige Krisenhaftigkeit zu fassen. Keine einfache Aufgabe, doch ungemein spannend durch Stepanovas offene, kreative Herangehensweise.
Ihre Hauptaufgabe sieht die Autorin aber darin, der staatlichen Verfälschung der Geschichte entgegenzuwirken, und sei es durch ein „Schreiben von Epitaphen“: Die Grabinschrift oder Namenstafel setzt all jene ins Recht, die als „displaced persons der Menschheitsgeschichte“ dem Vergessen anheimfielen.
Besonders als Lyrikerin spannt Maria Stepanova Erinnerungsräume auf und hebt die Toten in unser Bewusstsein. Im Zyklus „Der Körper kehrt wieder“ durchläuft sie das Alphabet in umgekehrter Reihenfolge – von Z bis A –, um dem Schöpfungsalphabet der Dänin Inger Christensen eine Auferstehungssaga entgegenzusetzen. Sie alle kommen wieder: „Die Römerin mit dem achtlos aufgetürmten / Flachsblonden Haarsturm“, „Der Mann, der die leuchtenden Plastikflugdinger verkaufte“, „Ein Arm, an der Marne begraben. / Ein Arm, nahe Narva begraben. / Ein Arm, im galizischen Sumpfland liegend. / Eine Aschearm, nirgends liegend. / Das alles kehrt irgendwann wieder.“ „Und die Krücken, gleich Petrusstäben, / Setzen grüne Triebe an.“ Ein Furor der Zärtlichkeit treibt diese Verse an, die nichts für verloren halten möchten, ein Sturm der Sinnlichkeit fegt durch die Worte und Metaphern: „Lazarus, komm da weg, / Und: Wo ist der Stachel, / Ich hol ihn raus, / Und falls noch irgendwo ein Splitter sitzt, / Auch das kriegen wir hin.“
Ja, es gibt diesen selbstbewussten Ton in Stepanovas Dichtung, der sich dem Skandalon Tod trotzig widersetzt, und es gibt mitunter neckische Töne, wenn gekalauert und „Gans“ auf „Rosenkranz“ gereimt wird. Sie nehmen dem Ganzen nicht seinen Ernst, im Gegenteil. Denn die Dichtung, so heißt es einmal, sei ein „absurdes, vieläugiges / Wesen mit vielen Mündern, / Das in vielen Körpern zugleich lebt.“
Entscheidend ist, den „wörtern die schnur vom genick“ zu nehmen. Was die Poesie am besten kann.
Die Poesie. In ihrem Zyklus „Krieg der Tiere und Untiere“ von 2015 nimmt Stepanova den Krieg im Donbass ins Visier, in bitter-ironischem Ton persifliert sie die staatliche Politik: „auf meinem gesamten hoheitsgebiet / startet ein crashkurs geschichte / füchse verbellen die sperrbrigaden / (…) in sämtlichen wahllokalen / geben gemeine feldhasen / solidarisch ihre stimme ab // und selbst die stechfliegen / haben ihr mahl unterbrochen / zwecks taktischen kreisens am himmel…“ Wo die Sprache partout nicht weiter weiß, gerät sie ins Stammeln: „ wir sind die nicht / wir sind wir die / sind wie tie re / die mar schie ren…“
Seit dem brutalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich Maria Stepanova in Essays einer radikalen Selbstanalyse unterzogen. Aus einer existenziellen Verstörung heraus fragt sie sich, was sie hätte tun können, um diesen Wahnsinn zu verhindern. Ich zitiere aus ihrem in der FAZ erschienenen Aufsatz „Die russische Frage“: „Der Krieg hat all unsere früheren Gewissheiten über uns selbst niedergerissen und lässt in unserem zukünftigen Selbstverständnis, unserer Selbstbeschreibung keinen Stein auf dem anderen. Nach Butscha und Mariupol stecken unsere individuellen Geschichten in einem einzigen großen Sack, und man wird sie im selben Licht betrachten (…). Aber vielleicht wird das Stigma, das schmerzhafte Zeichen der kollektiven Mittäterschaft eines Tages zu dem Punkt, an dem der Weg von einem blinden ‚Wir‘ zu einer Gesellschaft der sehenden ‚Ichs‘ beginnt. Bewerkstelligen lässt sich das nur von innen.“
An dieser Stelle möchte ich Maria Stepanova zurufen: Liebe Mascha, ein sehendes „Ich“ bist du schon lange, wie hättest du sonst deine Gedichte schreiben können, die soviel Welt, Verantwortungsbewusstsein und poetische Schönheit enthalten, die Grenzen überwinden, mannigfache Resonanzräume auftun und voller Vorahnungen sind?
Nehmen wir den Band „Mädchen ohne Kleider“ (dt. 2022). Im titelgebenden Zyklus geht es um den voyeuristisch-pornografischen Blick, dem nackte Mädchen ausgesetzt sind. Förster und Jäger auf der Jagd nach Wild. Fotos als Lockmittel. Ein universelles Problem. Stepanovas Empathie kommt da ins Spiel, wo sie nicht „abbildet“, sondern in die Haut der Mädchen schlüpft. Zärtlich, verständnisvoll, detailverliebt. – Im zweiten Zyklus des Bandes, „Kleider ohne uns“, einem kunstvollen Sonettkranz, macht sie leere Kleiderhüllen, die sinnlich wie elegisch auf ihre einstigen Träger verweisen, zum Symbol von Sterben und Werden: „Zeig die Kleider bis auf den Grund entkleidet. / Lehre sie Erde werden, / Wo was nichts war mit einem Mal die Welt ist.“ Sätze, die man so schnell nicht vergisst, zumal in einer Zeit, die das Gewicht der Materialität mehr und mehr diffuser Virtualität opfert.
Im dritten Zyklus, „Bist du Luft“, wendet sich das lyrische Ich in 33 vierzeiligen Strophen an die tote Mutter, indem es elementare Spurensuche betreibt.
Spurensuche ist bei Stepanova fast alles: die archäologische Grabungsarbeit in privaten und kollektiven Archiven, in den Ruinen der Geschichte, in versehrten Landschaften. Doch geht es dabei mehr noch um Anthropologie: um den Menschen in seiner Einmaligkeit und Würde, der uns aus Gräbern und Hinterlassenschaften entgegentritt.
Maria Stepanova ist eine zauberische Verwandlerin: aus Kleinem macht sie Großes, aus Großem Kleines; ein Gang durchs Feld führt mitunter in die Tiefen der Historie, kosmische Zusammenhänge erschließen sich aus „Schweissflecken, Wollmäusen, Fusseln“. Die pandemische Isolation wird in ihrem jüngsten, 2020 bis 2021 entstandenen Gedichtband „Winterpoem“ zu einer zeitvertikalen Zwiesprache mit dem ans Schwarze Meer verbannten Ovid, – nicht ohne böse Seitenhiebe gegen die alten und neuen Herrschenden, die „die örtliche Schwarzerde düngen / Mit der Buttermilch des Kulturimperialismus“ und jeden, der „kein Föderationssubjekt, kein Objekt in den Armen / eines Gebietsanschlusses“ sein will, grausam abstrafen.
Mal mit breitem, mal mit feinem Pinselstrich, mal im Volksliedton, mal mit philosophischem Räsonnement erkundet Stepanova die condition humaine, ohne deren russische Spielart zu vernachlässigen. Wir lesen Gedichte, die an epische Gesänge erinnern, und wundern uns über ihre zeitlose Heutigkeit. So paradox das klingen mag: bei Stepanova schieben sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übereinander, ebenso wie Klage und Trotz, Trauer und Hoffnung, O-Ton und Zitat. Dabei entsteht eine seltene Form der Schönheit, die ihre eigene Wahrhaftigkeit beinhaltet.
Machen Sie, sehr verehrtes Publikum, die Probe aufs Exempel, lesen Sie Maria Stepanova, entdecken Sie die Welthaltigkeit ihrer Poesie, einer Poesie, die Verständigung – in Europa und darüber hinaus – ermöglicht, weil sie sie im besten Sinne des Wortes verkörpert.
Dankesrede von Maria Stepanova
Hochverehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der Jury, liebe Gäste,
heute, hier und jetzt, vor Ihnen zu stehen in diesem wunderbaren Raum, ist mehr als eine Ehre. Es bedeutet Hoffnung. In den dunkelsten Zeiten passiert es manchmal, dass die Hoffnung das Einzige ist, was uns bleibt – das Einzige, was uns vom Untergang trennt, von der moralischen und metaphysischen Nichtexistenz. Es kann einzelne Menschen, menschliche Gemeinschaften, ganze Gesellschaften treffen. Umso dankbarer sind wir, wenn sich herausstellt, dass wir in der Dunkelheit nicht allein sind. Wir werden gesehen und gehört, unsere Stimmen können etwas bewirken – jemand will verstehen, was wir sind, jemand muss verstehen.
Meine Stimme kann gehört werden, und dafür bin ich unendlich dankbar – dankbar denen, die alles getan haben, um sie im deutschsprachigen Raum wahrnehmbar zu machen: meinem Verlag Suhrkamp und meiner wunderbaren Lektorin Katharina Raabe, meiner unglaublichen Übersetzerin Olga Radetzkaja und der großartigen Ilma Rakusa – jenen, deren Anwesenheit mich heute glücklich macht. Mein Dank gilt denen, die meine Bücher gelesen und über sie geschrieben haben, und weitergefasst dem deutschen Kulturkreis, der die lebendige Auseinandersetzung mit Texten in anderen Sprachen und aus anderen Ländern zu einem selbstverständlichen, notwendigen Teil des täglichen Lebens macht. Und natürlich den Experten und der Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung – jenen, die in diesem Jahr, dem zweiten Jahr der groß angelegten russischen Aggression gegen die Ukraine, ihre Entscheidung getroffen haben. Dies ist nicht nur eine mutige und barmherzige Geste – es ist ein Aufruf zu Verständigung und Differenzierung.
Ich bin durch meine Geburt und meine Staatsangehörigkeit mit einem Land verbunden, das jetzt versucht, Europa zurück in die Vergangenheit zu werfen – zurück zu einem Punkt Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, an dem die Sprache des Hasses versucht hatte, universell zu werden. Auch ich gehöre zu denen, die in russischer Sprache schreiben und die versuchen, sie im Namen der Zukunft neu zu gestalten – und wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen tue ich mein Bestes, um mich den Kräften zu widersetzen, die unsere Sprache als Instrument der Gewalt und des Todes missbrauchen. Ich glaube, dass die Zukunft einer jeden Sprache in ihrer Vielfalt und Unvollständigkeit liegt, in der Tatsache, dass sie nie ganz zu einem Staat, einer Landschaft oder einer Ethnie gehört und sich mit jedem, der sie in irgendeinem Land der Welt sprechen oder schreiben möchte, verändert und erneuert. Aber was mich besonders beeindruckt und bewegt hat an der Entscheidung der Jury – einer Entscheidung, die, ich wiederhole es, in einem schwarzen Jahr Europas, in einem Jahr der Verwüstung, der Angst und des Verlustes getroffen wurde – ist, dass der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung in diesem Jahr zum ersten Mal in seiner Geschichte für einen Gedichtband, für eine poetische Aussage verliehen wird.
Was bedeutet das für mich, für Sie, für uns, für diejenigen von uns, die sich heute den Texten, den Buchseiten zuwenden und hoffen, dort die Möglichkeit von etwas Neuem zu finden – etwas, das auch uns erneuern wird? Könnte es sein, dass sich Gedichte – mit ihrem begrenzten Publikum, ihren kleinen Auflagen, ihrer besonderen Sicht auf die Welt und ihre Wunder – als wichtig, ja sogar notwendig erweisen, und zwar gerade in Zeiten von Katastrophen? Gewissermaßen ist die Lyrik heute inmitten all des Schmerzes und der Taubheit die Entität, die immer wieder Fragen stellt, die uns immer wieder an die Existenz des Anderen erinnert, an die Notwendigkeit der menschlichen Verbindung, der europäischen Verständigung, der Verständigung im Allgemeinen – und an die Nichtendgültigkeit der Niederlage.
Es ist eine uralte Eigenschaft der Lyrik, dass ihr klangliches Wesen ihr ein langanhaltendes Echo verleiht. Keine einzige Gedichtzeile existiert in völliger Einsamkeit, keine Zeile wird jemals ohne Antwort geschrieben – sie ist Frage und Antwort zugleich, sie widerspricht dem, was andere Dichter, Vorgänger und Zeitgenossen gesagt haben und zweifelt nicht daran, dass sie gehört wird und in die Zukunft hineinreicht. Wie genau? Wer weiß. Vielleicht als Bruchstück, als Zitat, als Beispiel in einer Anthologie, als Begriff aus einer toten Sprache, zu der sich kein Schlüssel mehr finden lässt. Aber meist gelangen Gedichte in die Zukunft wie tote Gräser in den Boden – sie werden zu Humus, zu Erde, zu dem Stoff, aus dem die Texte anderer Leute wachsen. Gedichte tun nichts weiter als das: Sie sprechen miteinander, sie antworten und korrespondieren, sie reimen und zitieren. Sie werden Teil eines großen, weltweiten Gesprächs, das niemals endet, auch wenn diese oder jene Sprache verstummt oder verblasst.
Das klingt tröstlich, aber auch hoffnungslos. Wir wissen gut genug, dass Lyrik nichts bewirkt. Diese Zeile von Auden wird sogar von denen zitiert, die normalerweise keine Gedichte lesen – und das nicht ohne Grund. Sie zeigt uns das ganze Ausmaß der menschlichen Enttäuschung (über uns selbst, über unseresgleichen, über die Menschheit im Allgemeinen) im katastrophalen 20. Jahrhundert. Heute, wo niemand mehr so tun kann, als lebe er in einer post-katastrophischen Zeit – die Katastrophe ist wieder da, sie ist in unseren Köpfen und in unserem Leben allgegenwärtig -, fühlt sich dieses Eingeständnis unserer eigenen Ohnmacht niederschmetternd an. Sie war immer da, die Katastrophe, aber für viele von uns schien es so, als könne die kleine europäische Welt sicher und geschützt bleiben. Jetzt kann sie niemand mehr ignorieren. Was ist von der Lyrik zu erwarten? Hat sie heutzutage noch einen Nutzen? Können Gedichte überhaupt irgendwie helfen, Katastrophen verhindern, uns zu besseren Menschen machen, etwas bewirken? Alles, was sie je tun können, ist die Arbeit des Bezeugens und des Trauerns – aber reicht das überhaupt?
Audens Zeilen wurden 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, geschrieben. Fast zeitgleich mit ihm forderte der russische Dichter Daniil Charms, man solle so schreiben „dass, wenn man ein Gedicht durch ein Fenster wirft, das Glas zerbricht.“ Charms selbst starb im Februar 1942 im belagerten Leningrad in einer Gefängniszelle den Hungertod. Und die Lyrik hat ihn nicht gerettet – weder seine eigenen Gedichte, noch die Audens, noch die große Masse der Gedichte, die die Menschheit bis zu diesem Tag geschrieben hatte. Das Fenster zerbrach nicht, das Gefängnis blieb unversehrt.
Ebenso haben Gedichte, die in unseren Tagen oder damals oder zu irgendeinem Zeitpunkt geschrieben wurden, Butscha und Mariupol nicht verhindert – und auch nicht die Bombardierung ukrainischer Städte und zahllose neue Tote. Während ich in meinem Russisch schreibe und denke, töten die russischen Truppen die Ukrainer, die Ukrainisch sprechen – und auch die Ukrainer, die Russisch sprechen. Die Sprache der Gewalt ist international. Um sie zu beherrschen, genügt es, sich zu weigern, die anderen Menschen zu hören und zu verstehen.
Während ich jetzt zu Ihnen spreche, verbüßt Juri Dmitrijew, der Historiker und Leiter von Memorial in Karelien, der Mann, der die Vergangenheit in die Sprache der Gegenwart übersetzt hat, eine 15-jährige Haftstrafe in einem russischen Lager. Unter den vielen anderen politischen Gefangenen, die wegen der Teilnahme an einer Protestkundgebung, der Unterzeichnung einer Petition oder der Veröffentlichung eines Witzes inhaftiert wurden, befindet sich auch Alexej Moskalev, der wegen seiner 12-jährigen Tochter, die im Unterricht eine Antikriegskarikatur gezeichnet hatte, zu zwei Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt wurde. Das Mädchen kam in ein Waisenhaus, ihr Vater ins Gefängnis. Die Sprache der historischen Fakten ist für den russischen Staat ebenso gefährlich wie die Sprache der Bilder, so dass beide illegal werden. Demokratische Wahlen und eine unabhängige Presse gehören nicht mehr zum Alltag, sondern werden als kriminelle Aktivitäten wahrgenommen. Die Sprache, die der russische Staat spricht, ist die Sprache der Bürokratie und des Diebstahls, die Sprache der Polizeiprotokolle und der Gerichtsurteile, die dumpfe Sprache der ständigen Gewalt, die versucht, jede Möglichkeit einer Zukunft auszulöschen.
Ich spreche und schreibe in einer Sprache, die ihr eigenes Leben zusammen mit dem Leben anderer auslöscht.
Paul Celan hat vor vielen Jahren in seiner Bremer Rede darüber gesprochen, wie und um welchen Preis er sich die deutsche Sprache bewahrt hat, seine Muttersprache im unmittelbarsten Sinne des Wortes: die Sprache seiner Mutter, die ihm in die Wiege gelegt wurde, ohne Zweifel und Vorbehalte. Dieselbe Sprache, die zur Zerstörung seiner Familie und der Welt, die ihn umgab, beitrug – teilweise zum Mord an seiner Mutter. Dies war auch die Sprache, in der Celan weiterschrieb – und hatte er jemals eine Wahl? Wie er sagt: „Erreichbar, nah und unverloren inmitten der Verluste blieb dies Eine: die Sprache.“ Sie war alles, was er noch hatte: eine Sprache, die dekonstruiert, gereinigt und gerettet werden musste, eine Sprache, die Hilfe brauchte, um zu sich selbst zurückzufinden.
„Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah. Aber sie ging durch dieses Geschehen.“
Diese Worte wurden vor fünfundsechzig Jahren geschrieben, und ich werde sie jetzt auf Russisch wiederholen, wunderschön übersetzt von Boris Dubin – in meiner Muttersprache, wie ich sie einst in Moskau gelesen habe, in einer anderen Zeit. „Язык – наперекор всему – уцелел. Однако ему пришлось пройти через собственную беспомощность, пройти через чудовищную немоту, пройти через бесконечные потемки речи, несущей смерть“. Deutsch war nicht die erste und nicht die letzte Sprache, die durch Stummheit, durch zahllose Verfälschungen, durch Unmöglichkeit der Sprache gehen musste, um etwas Neues zu werden.
Aber ich bin heute nicht in einer Situation, die mit der Celans vergleichbar ist. Für viele ukrainische Dichter, die auf Russisch schreiben, stellt sich nun die Frage der Wahl. Ihre Heimatsprache entpuppt sich als die Sprache des Feindes, als Idiom des Todes, als Eindringling. Einige von ihnen beschließen, sie aufzugeben und von nun an auf Ukrainisch zu schreiben. Das ist ein großer Schritt, und ich kann mir den Schmerz, der dahintersteht, kaum vorstellen.
Was aber tun, wenn man keine solche Wahl hat? Was aber tun, wenn die eigene Sprache zum Sprachrohr des Wahnsinns und der Barbarei wird? Was, wenn sie wie in einem Laborversuch absichtlich mit dem tödlichen Virus der Vergangenheit infiziert wird – und sich so die Krankheiten der Vergangenheit eine nach der anderen wie Pest, Lepra, Pocken über die Welt ausbreiten? Sind wir jetzt dazu verdammt, das zwanzigste Jahrhundert immer wieder neu zu erleben, seine Gefängnisse, Konzentrationslager und Propagandamaschinen, seine Grabenkriege und Flächenbombardements? Was tun, wenn das Gewebe der Sprache, ihre Textur, plötzlich durchsichtig wird und man all die verborgenen Schichten latenter und offener Gewalt sieht, die in ihr liegen und nach außen drängen? Das Einzige, was vielleicht hilft, ist zu wissen, dass ich nicht allein bin. Die Arbeit des Verstehens wird, wie die Arbeit der Lyrik, nie allein getan.
Celan gefiel ein Bild, das er von Ossip Mandelstam, einem Dichter, den er liebte, entliehen hatte: eine Flaschenpost, adressiert an eine Person, die noch nicht existiert, eine Nachricht, die ins Unbekannte geschickt wird – in der Hoffnung auf Aufmerksamkeit (eine wichtige Kategorie für Celan) und Verständnis. Die schwerelosen Fäden des Verstehens, die sich irgendwie, leise, ganz langsam zwischen Texten, zwischen Sprachen, zwischen gähnenden Leeren spannen – sie halten noch immer unsere Welt zusammen, werden dichter, knüpfen Beziehungen, stellen Verbindungen her und flicken das zerrissene Gewebe.
Aufmerksamkeit und Verständnis – das scheint nicht viel zu sein. Aber wenn man es genau bedenkt, gibt es nichts Wichtigeres für unsere Worte – oder für uns selbst. Jetzt, da die russische Sprache zunehmend diasporisch wird – eine Sprache der Vertreibung, des Exils und der Zerstreuung -, muss sie keine Norm mehr darstellen und keine Angst vor Veränderungen, Störungen und Unvollkommenheiten haben. Sie wird im vielstimmigen mehrsprachigen Raum leben, zusammen mit Belarussisch und Arabisch, Farsi und Türkisch, Deutsch und Armenisch, und sich zwischen Welten und Grenzen hin und her bewegen. Alles, was wir brauchen, ist die Hoffnung, das Gespräch weiterzuführen – an der universellen Verständigungsarbeit teilzunehmen, vom Lokalen ins Weltweite übersetzt zu werden. Wie Sie sich erinnern, sah Paul Celan kaum einen Unterschied zwischen Gedicht und Händedruck, zwischen Gedanke und Dankbarkeit, Denken und Danken. Ich bin allen, die sich heute hier versammelt haben, zutiefst dankbar – für die seltene Freude des gemeinsamen Denkens, über die Sprachen hinweg, über die Gedichtzeilen hinweg – und für die Tatsache, dass man selbst in den dunkelsten Zeiten ein Gedicht mit einem Händedruck beantworten kann.
Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, seit 1994 jährlich vergeben und mit 20.000 Euro dotiert, zählt zu den wichtigsten Literaturauszeichnungen in Deutschland. Das Preiskuratorium bilden der Freistaat Sachsen, die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. und die Leipziger Messe. Kooperationspartner ist die Bundeszentrale für politische Bildung. Ausführliche Informationen zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, den bisherigen Preisträgern, dem Kuratorium und der Jury sind unter http://www.leipzig.de/buchpreis zu finden.