
Brüssel. Impfung, Test, Reise – zum x-ten Mal sucht die Europäische Union nach einer gemeinsamen Linie im Kampf gegen die Koronapandemie. Auf dem Videogipfel an diesem Donnerstag müssen die Staats- und Regierungschefs zunächst die Ressentiments gegen Impfstoffknappheit und strengere Grenzkontrollen beiseite schieben.
Dann werden die 27 wieder schwören, sich in Zukunft zusammenzuschließen.
Es ist nicht klar, ob dies diesmal besser funktionieren wird als alle Zeiten zuvor. Denn das erste Jahr der Pandemie hat gezeigt: Die EU ist nicht optimal auf diese Krise des Jahrhunderts vorbereitet – zu schwache Strukturen, zu viel Streit um Kompetenz, zu viel Sturheit. Oder wie der Ökonom Guntram Wolff vom Brüsseler Institut in Brüssel sagt: „Die EU hat das Rennen ohne Rennwagen gestartet.“
Die EU-Kommission wurde viel geschlagen, weil es keinen Corona-Impfstoff gab. Aber auch die EU-Staaten haben sich oft nur am Konferenztisch geeinigt – und dann das getan, was sie für richtig hielten.
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Gesundheitsminister Spahn: Stellen Sie keine Mauer um dieses Land
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn beantwortete im Bundestag einen Fragebogen und sprach über die Eindämmung der Pandemie. © Reuters
Grenzstreit mit Deutschland
Das jüngste Beispiel ist der Grenzstreit mit Deutschland. Geschlossene Grenzen und Mega-Staus mitten in Europa – nach dem Chaos zu Beginn der Corona-Krise wollten alle das eigentlich verhindern. Aber dann kamen die Virusvarianten.
Ende Januar einigten sich die EU-Staaten auf Reisen auf gemeinsame Empfehlungen. Aber es war schon klar, dass Deutschland seinen eigenen Weg gehen würde. In der Zwischenzeit haben die Tschechische Republik, die Slowakei und große Teile Tirols Einreisebestimmungen, die weit über die EU-Empfehlungen hinausgehen.
Aus Sicht der EU-Kommission kümmern sich auch andere Länder zu wenig um die gemeinsamen Entscheidungen. Die Behörde argumentiert, dass der Warenverkehr nicht zum Stillstand kommen sollte und dass grenzüberschreitende Pendler zur Arbeit kommen müssen. Die EU-Koordinierung hat möglicherweise noch mehr Unordnung verhindert.
Südstaatler befürchten eine tote Reisesaison
Aber wenn es schwierig wird, gehen viele EU-Staaten alleine.
Ein weiteres Beispiel: die übliche Corona-Impfkarte. Die EU-Staaten haben das Ziel bereits auf dem Gipfel im Dezember formuliert. Bisher gab es jedoch nur Eckpfeiler für rein medizinische Zwecke. Die Debatte darüber, ob dies beispielsweise das Reisen erleichtern soll, wurde ausgelassen.
Die Südstaatler haben Angst vor einer weiteren „toten“ Reisesaison, wie ein EU-Diplomat am Mittwoch sagte. Griechenland und Zypern haben kurzerhand mit Israel Abkommen über die künftige Einreise geimpfter Menschen geschlossen.
Deutschland, Frankreich und andere hingegen bremsen – weil noch nicht klar ist, ob geimpfte Personen das Virus weitergeben und weil sie eine Impfpflicht durch die Hintertür befürchten. Auch diesmal sollte in der Erklärung des Gipfels nur angegeben werden, dass ein gemeinsamer Ansatz für eine Impfbescheinigung angestrebt wird.
Ein Mangel an Impfstoffen fördert den Alleingang
Empfehlungen der EU-Kommission kommen oft zu nichts. Am 28. Oktober warnten die Behörden die Mitgliedstaaten vor Antigen-Schnelltests. Erst am 18. Februar – etwa dreieinhalb Monate und eine Sperre später – stimmten die 27 schließlich zu, welche dieser Schnelltests sie sich gegenseitig erkennen wollten.
Am 15. Oktober forderte die Kommission die logistische Vorbereitung der Impfkampagne. Aber nicht alle waren bereit für den festlichen Start am 27. Dezember. Belgien hat nur symbolisch ein paar Injektionen gegeben, die Niederlande sind erst am 6. Januar zurückgeblieben.
All dies wurde bald von dem Streit um den Impfstoffmangel überschattet. Die Kommission, die für alle Staaten ernannt hatte, war dafür verantwortlich – wenn auch in Übereinstimmung mit den 27, die es auch schwierig fanden, beim Kauf von Impfstoffen einen gemeinsamen Nenner zu finden. Einige hatten Vorbehalte gegen die mRNA-Technologie, andere fanden die neuen Impfstoffe zu teuer, und andere wollten Astrazeneca insbesondere wegen seiner einfachen Anwendung. Es war hart, im Nachhinein zu langsam und schüchtern.
Europa bleibt bei der Impfung zurück
Die Kommission hätte die Mitgliedstaaten stärker vorantreiben sollen, sagt Bruegel-Experte Wolff. „Ich hätte mir mehr Führung in den Verträgen gewünscht.“ Insgesamt war das System zu träge und zu vorsichtig – mit der Folge, dass die EU bei der Impfung weit hinterherhinkt, was schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft hat. „Als Ökonom muss ich sagen, dass das natürlich Kappes ist“, sagt Wolff.
Vizekommissarin Margaritis Schinas hält Kritik für unbegründet. „Es wäre sehr unfair und unwesentlich zu sagen, dass die Europäer nicht zusammengearbeitet haben“, sagte er gegenüber der Deutschen Presseagentur. „Ich teile nicht die Ansicht einiger Katastrophenforscher in der deutschen öffentlichen Debatte.“
Er weiß jedoch auch, dass die EU die nächste Krise besser bewältigen sollte, wenn die Bürger daran festhalten sollen. Auf dem Videogipfel soll die Kommission die Aufgabe erhalten, bis Juni „Lehren aus der Covid-19-Pandemie“ zu ziehen.
Die EU will eine neue Behörde für das Impfmanagement
Ein Vorschlag liegt bereits vor: eine neue EU-Behörde namens Hera und als Vorstufe ein Programm für neue Impfstoffe gegen Virusvarianten.
Der Bruegel-Experte Wolff hält dies ebenfalls für sinnvoll und verweist auf den Impferfolg in den USA, wo ein ehemaliger Vier-Sterne-General der zuständigen Behörde Barda Dampf machte. „Dies ist eine der Lektionen für Europa: Wenn Sie Dinge gemeinsam tun, müssen Sie auch die Exekutivgewalt zentralisieren. Man kann nicht alles im Konsens versuchen “, sagt Wolff. Um im Bild zu bleiben: „Man kann den Rennwagen nicht halb fertig lassen, man muss ihn fertig machen.“